Blog-Info:
Hier findet man jederzeit nachdenkende Texte aller Art und (m)eines einzigen
Copyrights, zwischen Kurzgeschichten, Artikeln, Glossen und Aphorismen
manchmal auch so etwas Lyrik und immer mit dem literarischen Anspruch
der Lesenswertigkeit. Das glauben Sie mir nicht? Schauen Sie doch selbst...

Katzenelson,
gez.: Vom Leben!
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Die oder keine



  Es geschah in der Adventszeit und während so einer Lesung: Ich hätte eigentlich aus meinem neuen Werk vortragen sollen, »Schnepfenblut« unter dem Pseudonym James Mc Bryan - irgendwann, sobald ich an der Reihe wäre. »Jeder kommt dran«, das hatte man versprochen, auch mir...
  Ich saß also im Publikum, das vor allem aus vierzig Autoren und Autorinnen bestand, die meisten nach langer Anreise wie ich; wer liest schon in der Heimatstadt vor. Auf meinen Knien lag die Liste der angekündigten Akteure, meinen falschen Namen hatte ich fett unterstrichen. Darunter hielt ich mein Manuskript. Außerdem war die Lokalpresse da, mit Blitzlicht-Technik ausgestattet. Und das, obwohl gleich vor der Türe der alljährliche Weihnachtsmarkt eröffnet wurde. Vor sieben Jahren, so ging das namenlose Gerücht, hatten sie bei dieser traditionsbewussten Vortragsveranstaltung hier ein Genie entdeckt. Seitdem fanden sich alle möglichen Gesichter ein, auf Verdacht und Teufel komm raus. Ich wartete.

  Ein bleicher Zeitgenosse mit glitschig maisgelbem Haarscheitel stand auf der Bühne am Pult und las seines unter der Leselampe hervor ins Mikrofon, seit bestimmt schon einer viertel Stunde. Es ging um einen Hund, glaube ich. Er war kaum zu verstehen, machte einen gehetzten Eindruck und nuschelte im Eiltempo einen Text runter, der sich als schier unendlich erwies.

  Vor ihm war dieses Mädchen dort oben gestanden. Die hatte optisch nichts zu bieten gehabt und nur einen Satz vorgetragen, einen knappen Satz, mit leiser Stimme, wohlgemerkt. Sie bekam aufbrausenden Applaus dafür. Man merkte ihr die Daseinsfreude an, als sie abtrat in ihrem Glauben, mit der Kürze an sich gescheite Kunstfertigkeit bewiesen zu haben. Dabei waren alle nur heilfroh, dass sie sich derart kurz gefasst hatte, waren dankbar und ich auch. Mein Beifall dauerte länger als ihr Auftritt und lauter war er sowieso. Und während ich noch bereute, nicht wenigstens diesem einzigen Satz von ihr gelauscht zu haben, wer weiß, vertrödelte ich, mit dem Klatschen aufzuhören. Die anderen auch. Sie jedenfalls fand sich genial; soviel beifallzeugende Autoren im Publikum konnten schließlich nicht irren, wir waren doch alle vom Fach. Die Ärmste.

  Und dieser Knabe da oben fand nun gar kein Ende. Einer hätte mal mit Buhrufen anfangen können, aber nein, offensichtlich nicht. Niemand gab sich her. Ich rutschte tiefer in meinen Sitz. Ausruhen, abschalten, das ist immer gut, wer weiß schon, was einen als nächstes im Leben erwartet. Man sollte immer ausgeruht und gut bei Kräften sein.
  Plötzlich, als hätte er ausgerechnet mich durchschaut, hob er seine Stimme, trug Hasstiraden gegen Eltern und Lehrer vor. Es konnte einem Angst und Bange werden, solche Ausdrücke kannte der. Mich befiel die Ahnung, dass er überhaupt nicht las, sondern nun frei fabulierte. Er steigerte sich da in etwas hinein, flippte völlig aus, sein Kopf machte gefährliche Bewegungen, verfärbte sich hin und her. An ein Nickerchen war jedenfalls nicht mehr zu denken. Und dann, nach ein paar weinerlichen Zwischentönen, war er unverhofft fertig. Erschöpft schob er seine Blätter ineinander, hoffentlich war niemand im Saal, der ihn kannte, und verließ unter spärlichem Applaus das Pult. Er war so schmächtig, sobald er aus dem Leselicht heraustrat, mit furchtbar dürren Armen, das hätte ich gar nicht gedacht. Ich folgte ihm noch eine Weile mit den Augen, bis er gänzlich verschwand. Dann wurde es merkwürdig still für eine Weile.

  Auf der anderen Seite der Bühne kam endlich eine neue Kandidatin, eine brünette, die wenigen Stufen hinauf, mit hängendem Kopf unter langen Haaren, als sei es der Weg zu ihrem Schafott. Doch ich sollte mich getäuscht haben: Sie legte ihr gestapeltes Manuskript aufs Pult, schaute selbstbewusst in die Menge, schaute mir in die Augen, ließ den Blick weiter schweifen, nagelte einen jeden an sich fest, kaum dass sie erstmal dort oben stand. Eine Welle beeindruckender Erhitzung durchfuhr mich. »Die oder keine!« dachte ich und setzte mich aufrecht.

  Und dann begann sie zu lesen, mit unwiderstehlicher Stimme. Sie rollte jedes R, mal zart, mal tollkühn, aber immer gekonnt, ich erinnere ihre Worte: »Sie haben die Ehrlichkeit abgeschafft. Zur besseren Tarnung. Und die zerreißt ihnen nur, wenn sie Soldaten zujubeln. Schließlich ist Revolution immer überfällig, wenn gerade keine ist. Und so schreien die Gerechten unter uns: Höher, schneller, weiter!« Sie las eindringlich, ja abenteuerlich ihre Zeilen, machte üble Pausen, als sei sie wer persönlich. »Sie weinen nur noch unter der Dusche, leise, damit man sie nicht hört; dafür aber duschen sie reichlich. Man kann sie nicht sehen, wenn sie es tun. Sie verschließen die Türe hinter sich und vor der Welt. Und wenn man sie nachher fragt, warum die Augen gerötet sind, schieben sie die Schuld auf die Seife, schlucken ein Aspirin. Wussten Sie, dass heutzutage Seife schuld ist, wenn einer weint? Verdammt nochmal. Und dann schreien sie erneut nach Revolution, falls gerade keine ist und jubeln wieder den Soldaten zu. Sie haben die Ehrlichkeit abgeschafft, zur besseren Tarnung.«
  Ich war hin und weg. Die oder keine.

  Der Typ von eben, der blasse Schwächling, erschien plötzlich neben mir aus dem Nichts, setzte sich auf den freien Platz zu meiner Linken. Ich dachte mir, warum jetzt, schau nur, dieses Mädel da oben, die hat es drauf! Man sollte nie unüberlegt einen freien Sitz neben sich zum besten geben - dann beugte er sich unendlich aufdringlich rüber zu mir, mit schlechtem Atem, er musste rohen Fisch gegessen haben oder so, und fragte mich, hastig nuschelnd mit seinem sprachlichen Markenzeichen: »Fandest du mich gut?«
  »Halt die Fresse!« zischte ich ihn an. Klar, mit einem wie dem konnte man es ja tun. Er hat sich wahrscheinlich sofort mein Gesicht eingeprägt und wird über mich herziehen beim nächsten Mal am Pult, in einer noch fremderen Stadt. Dann trat das Mädel von der Bühne ab, unter stürmischem Beifall; ich hatte glatt ihren Schluss verpasst wegen dem Trottel, hätte ihn umbringen können, hätte ich nur können!
  »Schwachkopf«, fauchte er mich an und stolperte durch den allgemeinen Jubel davon. Verdammt.

  Einer von rechts gab mir nun Zeichen, ich sollte auf die Bühne rauf, ich war an der Reihe. Ich nickte ihm zu, stand auf und verließ in anderer Richtung den Schauplatz nach hinten hinaus ins Freie.
  Draußen stank es nach Weihnachtsmarkt, Gebackenem, Parfümiertem und Glühwein. Ich setzte mich auf eine Bank abseits und dachte nach, über die Tarnung und die Revolution und ob ich meine Tarnung revolutionieren sollte. Da sah ich sie, die Vorleserin, keine sechs Schritte von mir vorübergehen, in einen langen blauen Wollmantel gehüllt, mit gesenktem Kopf, unverkennbar. »Die oder keine!«
  Sie aber lief weiter, ohne mich zu bemerken.

  So blieb ich alleine, meinem todsicheren Geschmack für tolle Frauen mal wieder treu: »Oder keine.« Ich sah mich um. Soldaten waren an diesem denkwürdigen Ort jedenfalls nicht zu sehen. Wahrscheinlich duschten sie mal wieder, zur besseren Tarnung, ganz leise.

  Als es dann auch noch zu regnen anfing, stellte ich den Kragen hoch und verließ diese trostlose Stadt.

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Vorzüglich. Schöne Geschichte.

Anonym hat gesagt…

eine schöne geschichte mit (wie heißt das immer so schön?) hintergründiger ironie!

mit ausnehmend großem vergnügen gelesen von
andrea

(ps: weil jedes wort so gut "sitzt", fiel mir das eine auf, das ein wenig wackelt: nämlich dieses "den platz zum besten geben". das scheint mir den entscheidenden tick übers ziel zu schießen.)

Anonym hat gesagt…

Zuerst habe ich gedacht, es handelt sich um ein pointierte und gut formulierte Betrachtung über eine Lesung bei Dr. Hänsel-Hohenhausen (der Konzern unter den Zuschussverlagen), aber dann bekam die Geschichte eine sehr schöne Wendung.

Grüße

Anonym hat gesagt…

ein schöner text. kann mir die geschilderte gefühlswelt gut inhalieren.
nur: warum bist du aufgestanden und, statt vorzulesen - bedenke die mühen der langen anreise und das lange zuhörende warten müssen im saal. und dann einfach so im hinteren park versonnen? kein wunder: "oder keine". auf diese art wirst du nie "die" oder mich persönlich haschen.

also. er beschäftigt mich noch. der text. er berührt mich. du hast mal wieder sehr berührend erzählt.

kisses.

g.

Anonym hat gesagt…

Hallo,

ich habe mich auf deiner Seite eingefunden, neugierig wie ich bin.
Natürlich konnte ich nicht widerstehen, deine Geschichten zu lesen.
Diese hier gefällt mir wirklich gut. Stark und eindringlich geschrieben.
Ich wünsche dem Protagonisten, dass er irgendwann "die Eine" findet.

Liebe Grüße
Nicole/Julchen (Bookrix)

tigee80 hat gesagt…

Die ersten Sätze haben mich bereits gefesselt. Sehr spannend geschrieben. Es fällt mir immer wieder leicht, mich richtig in die Geschichte einzuleben. Bravo.

LG,
Carina