Blog-Info:
Hier findet man jederzeit nachdenkende Texte aller Art und (m)eines einzigen
Copyrights, zwischen Kurzgeschichten, Artikeln, Glossen und Aphorismen
manchmal auch so etwas Lyrik und immer mit dem literarischen Anspruch
der Lesenswertigkeit. Das glauben Sie mir nicht? Schauen Sie doch selbst...

Katzenelson,
gez.: Vom Leben!
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Müde


  Ständig hatte sie gefroren. Auch noch wenn wir sie in dicke Decken gehüllt und ihr die Mütze übergezogen hatten; und obwohl ihre Stirn glühte wie ein lichter Ofen, tagein, tagaus.
  Doch nie hat sie gejammert oder sich beschwert, während draußen vorm Fenster die Jahreszeiten wechselten, ohne Einfluss zu nehmen.

  Zitternd saß sie immerfort da, bis sie kraftlos auf ihrem Stuhl in den Schlaf fiel, das kleine Kinn auf die vermummte Brust gesenkt. Ein Häufchen Elend. Dabei musste sie im Schlaf viel glücklicher gewesen sein, fern der Schwäche und all ihrer Kälte. Niemand hätte es gewagt, sie nun zu wecken und ins viel bequemere Bett zu bringen. Also schlief sie meist bei uns im Salon auf dem Stuhl. Man sah sie ja kaum unter all den Decken und der riesengroßen Wollmütze, auch im allerschönsten Sommer nicht. Sie hat uns nie gestört. Ach, hätte sie doch nur...

  Kein Arzt wusste Rat. Und eines Nachts dann hatte die Kälte vollends von ihr Besitz genommen. Der Hund jaulte, unsere Katze suchte das Weite, Mutter schrie und Vater schluchzte. Die Oma schlug den Köter und fing das Beten an.

  Die Kerle vom Bestattungsunternehmen haben bloß mal mit den Schultern gezuckt, sie langsam aus den Decken geschält und auch die Mütze abgenommen. So konnten wir sie also nochmal sehen. Mein Gott, wie schön sie war. Lisa ist nur fünf Jahre alt geworden, da war ich bereits sieben. Ein Engel war sie, ein Engel soll sie ewig sein.

  Ihr Stuhl steht jetzt in meinem Zimmer, ich hocke drauf. Mir ist kalt. Ich sollte besser das Fenster schließen. Hätte ich nur die Kraft dazu. Dieser blöde Juliwind macht mich ziemlich kirre, und ich friere. Nur gut, dass Lisas Mütze noch passt, sitzt mir bis tief in die Stirn gezogen. Ich zupfe die Decken zurecht. Und warte auf den Schlaf. Und Lisa. Vielleicht wartet sie auch wieder auf mich...

  In meinen Träumen auferweckt entgeht sie mir nicht: Ich stelle mir also vor, wir säßen in einem großen schönen Riesenbaum auf sicherem Ast, lassen die Beine baumeln und singen hübsche Lieder mit derart hellen, klaren Kehlen, dass Spaziergänger denken müssen, es sei ein singender Baum.


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  Text im BookRix-Format als Buch lesen:  Hier
  (1. Platz im BookRix-Schreibwettbewerb »Web Your Book«, 2009)



19 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

BRAVO!
Vielen Dank für deinen Hinweis in unserem Literaturforum, denn ich fand hier: Einen sehr guten Text, der sich sicher zwischen Erzählkunst, Lyrik und Sprachgebrauch verschiedener Generationen auskennt und raumgreifend schildert, mit kaum nachvollziehbarer Tiefe. Da wird von der robusten Oma der "Köter!" übernommen, vom Kind der kitschige Engel, vom genervten Heranwachsenen das "kirre", und den semantischen Aufbau des singenden Baumes kreide ich mal dem Schwesterchen an. Eine runde Sache, alles funktioniert, ohne zuviel zu verraten, so dass sich verschiedene Leser ganz anders zurechtfinden können - je nach Alter und sozialer Herkunft. Da bleibt es am Ende auch unwichtig, wann die Geschichte überhaupt spielt, sie könnte so oder so vor hundert Jahren oder eben erst stattgefunden haben, traurg und anklagend, sehnsuchts- und hoffnungsvoll wie sie gekonnt dasteht. Ein Schmuckstück von einem Text, bei all der vorgeführten Kürze zudem web-gerecht aufbereitet.

Anonym hat gesagt…

Echt gut geschrieben, traurig und schockierend. Eine lesenswerte Kurzgeschichte auf nur ca. zwei Buchseiten zu schreiben, ist schwieriger als eine zwanzigseitige Story. Dir ist das gelungen. Gratulation!

Gruß
Klaus

Anonym hat gesagt…

Kurz, lesenswert und bedrückend geschildert. Sicherlich steckt mehr drin, aber ich würde nichts ändern. Diese Geschichte bringt es auf dem Punkt. Wieder ein Thema was traumatisch verschwiegen wird in der Gesellschaft.

Anonym hat gesagt…

Ich finde deine kurze Geschichte sehr vielsagend und schön. Beim Lesen war ich sehr mitgenommen, ein Herzensbrecher die Story. Mir sagt sie: Liebe und gebe ehe es zu spät ist. Wirklich sehr sehr schön und rührend...

Liebe Grüße,
Aleksandra

Anonym hat gesagt…

Wow, ich muss sagen, für nur zweieinhalb Seiten kurz und knackig und außerdem schnell auf den Punkt gebracht. Und solche Geschichten berühren einen natürlich immer etwas, außer man ist steinhart. Wobei man vielleicht gewisse Empfindungen noch näher zum Ausdruck bringen und beschreiben könnte. Warum schlägt die Oma eigentlich den Hund? Der Arme... ;-)

Anonym hat gesagt…

Hallo,
finde diese Geschichte sehr gut. Sie ist in einer einfachen und gut strukturierten Art geschrieben, wobei die inhaltliche Tragödie sehr gut zu Geltung kommt, einfach und doch komplex...

Anonym hat gesagt…

Die Geschichte ist kurz, aber abgeschlossen, und die Worte malen ein bedrückendes Bild.

Lesenswert, weil es die Realität ist. Und die ist meistens... grausam.

Anonym hat gesagt…

Eine berührende Geschichte, die ich gut fand: Der Stil, wie diese Geschichte geschrieben wurde, gefällt mir außerordentlich. Dafür gerne ein Lob.

Anonym hat gesagt…

Ein guter Text: In diesem Fall kann ich mich meinen Vorkommentatoren nur anschließen, der Text ist absolut herzzerreißend. Das "für meine kleine Schwester" auf der ersten Seite hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ist das ein Kunstgriff? Oder ist die Geschichte autobiografisch? (Worauf du natürlich nicht antworten musst.) In jedem Fall habe ich sehr mit dem Erzähler mitgelitten.
Gruß, Bea

Auf meinem Weg... hat gesagt…

Man sagt Dir nach, Du hättest eine Armee rekrutiert, um den BookRix-Schreibwettbewerb zu gewinnen. Ich finde, Du hast es verdient, zu gewinnen!
Ein Lob von mir, auch wenn der Wettbewerb schon um ist!!
Du hast mich mit dieser kurzen Geschichte sehr berührt und ohne viele Worte den wesentlichen Punkt getroffen. Sehr, sehr lesenswert!! Ich danke Dir für dieses Werk!
Lieben Gruß, auf meinem Weg bei Dir vorbei...

matthes1960 hat gesagt…

Emotionen: Es ist schon erstaunlich, wie man es in den paar Zeilen schaffen kann, erst Emotionen beim Leser zu wecken und ihn dann in die nüchterne reale Welt zurückzuholen (die Oma "schlägt den Köter" und der Bestatter ist alles andere als pietätvoll). Für diese Gefühlsmischung habe ich auch nur Lob.

Björn Lindt hat gesagt…

In der Tat: eine wirklich berührende Geschichte, die ich mit leichtem Frösteln gelesen habe; gerne mehr davon.

ewiko74 hat gesagt…

Deine Zeilen berühren mich sehr.

Evelina Susannah

Rena Larf hat gesagt…

Unglaublich...
und von so wunderbar poetischer und atmosphärischer Tiefe geprägt, von authentischem Gefühl, dass man mit auf diesem singenden Baum sitzen möchte, um euch zu lauschen. Euch... den im Traum Vereinten...

LG, Rena

Chan hat gesagt…

Ich finde, diese Geschichte ist sehr schön und vorallem sehr traurig. Deine Schreibkunst gefällt mir. Mach nur weiter so.

Lg Chan

Amiku hat gesagt…

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen. Du schreibst unheimlich gut und extrem emotional. Vielleicht solltest du daran denken, einen Sammelband deiner Kurzgeschichten zu veröffentlichen (ich meine nicht nur übers Internet, sondern generell).

RD hat gesagt…

I read your last story. It's very beautiful. I do understand it all, even why grandma hit the dog. Everyone is so sad. You have a very sensitive way of writing. Your words are golden. Thank you,
RD

KeinOhrhasen27w hat gesagt…

Hi,
ich finde es wirklich eine ergreifende Geschichte. Tolle Wortwahl - weiter so, und ich freue mich auf die nächste Geschichte. ;-)
Liebe Grüße, KeinOhrhasen27w

debrouillard hat gesagt…

Alles an der Erzählung "klingt" sehr echt. Hat man ein wenig Phantasie, oder, wo man sich hierin, auf welcher Ebene das auch sei, wiederfindet, wird man, wo man dem nicht nachgeben möchte, mit Tränen kämpfen.
Schön geschrieben.
(Einzig die Sprache kann in sich einheitlicher sein - doch dieser Punkt schwindet gegen den Inhalt ;))