Blog-Info:
Hier findet man jederzeit nachdenkende Texte aller Art und (m)eines einzigen
Copyrights, zwischen Kurzgeschichten, Artikeln, Glossen und Aphorismen
manchmal auch so etwas Lyrik und immer mit dem literarischen Anspruch
der Lesenswertigkeit. Das glauben Sie mir nicht? Schauen Sie doch selbst...

Katzenelson,
gez.: Vom Leben!
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Zur Stunde


   - Eine Kneipenwette -

  Ich stehe heute Abend, und daran bin ich selber schuld, hier im Dunkeln auf dem Domplatz splitternackt und friere. Die Füße habe ich zusammengestellt, um mich herum eilen Menschen. Bauch rein, Brust raus, Kopf in den Nacken; der Dom ist beleuchtet...


  Die meisten Geschäfte sind noch geöffnet...

  Ich halte meine gestreckten Arme seitlich angehoben vom Körper zum Kreuz hin und lasse auch mal den Kopf hängen: Vor mir liege ich auf der Schattenseite vom Reklamelicht neu gezeichnet; wie eine abgelegte Marionettenkarikatur, Abteilung Scherenschnitt, Marke Jesus, leicht verzerrt.

  Eine Frau rast heran, mitten durchs Bild, ohne theatralisches Feingefühl. Ihre Einkaufstüten funkeln farbig. Ob mir nicht kalt sei, fragt sie barmherzig. Ich sage ihr, ich friere. »Hier, nehmen Sie, junger Mann.« Sie legt mir einen Schal um.
  Dann schleppt sie die Einkäufe mit sich fort.

  Aus einer kleineren Horde von Beistehenden löst sich halbwegs spontan ein Kerl und kommt auf mich zu. Groß, behäbig, mit Vollbart, tüchtiger Hausbär, spricht albanisch. Er legt mir einen platten Karton hin. Ich steige darauf, entkomme barfuß dem einsetzenden Bodenfrost. Meine Kiefer schlackern aufeinander, dass es mir um die Zähne bangt, und ich beiße sie zusammen.

  Ein Kind bringt eine Decke. Wo hat das Kind die Decke her?

  Der Ausländerbär kehrt also um, legt mir die Decke auf die Schultern hoch, zupft dran, macht sie zurecht. Dann lässt er noch seinen Pullover da, bindet ihn mir über die Lenden und geht frierend davon. Ich zittere am ganzen Leib. Ein fieser Wind fegt zu dieser Stunde den Domplatz, kalt und bissig.

  Einige Minuten vergehen. Ich harre aus.

  Der Typ vom Imbiss schlendert unentschlossen her, setzt mir zimperlich seine fettige Mütze auf. Fast glaube ich, er ist nicht nur gekommen, dem Schauspiel publikumswirksam seine Reklame überzustülpen. Wortlos geht er.

  Dass es eisig kalt ist, sagt mir nun eine alte Dame Bescheid. Sie nickt dabei, ich könnte mir ja wer weiß was holen. Ich bestätige ihr, dass ich friere, und sie geht protestierend weiter. Was soll ich sagen, sie hat ja recht.

  Eine Gruppe Touristen-Japaner poltert aus dem Dom, lachen, als sei ihnen Gutes widerfahren. Doch dann entdecken sie mich. Fotos, die um die Welt gehen werden, spärlich belichtet. »Nich kalt?« erkundigt sich ihr lustiger Anführer. Ich sage ihm, ich friere, und er versteht nicht. Seine Übersetzung pariert dagegen sehr, und alle lachen. Außer mir. Bald sind wir fertig miteinander, und sie tapseln weiter. Ein Ungeheuer von einem riesigen Reisebus schluckt sie schließlich in seinen warmen Bauch.

  Die Stimmung drückt. Mein Zustand offenbart sich als Verschleißerscheinung. Bis über die Knie spüre ich die Beine nur als eiskalten Schmerz, glaube ich. Richtig weh tun aber erst Krämpfe.

  Ein Betrunkener spendiert mir seinen Mantel, habe ihn gar nicht gesehen. Er kriegt den Loden nicht über die Decke auf mich drauf und legt ihn mir zu Füßen.
  Ich denke an Ruhm, Rum und Rummel in der Karibik. Jemand applaudiert, gibt sich als Großstadtlegendenfan.

  Etwas links von mir steht eine dralle Blondine, ein wildes Bildnis von einer gepflegten Frau. Verwegen das Ganze. Es gibt Tage, da denke ich, mit meinem Wetteifer manches über Maß zu entbehren. Vielleicht lebe ich nur meiner großen Klappe hinterher und bin gar kein Held. Bettel ich bloß um Ehre oder kämpfe ich für Gnade schon? Saßen die anderen nicht im Warmen vorm Bier?

  Doch was sage ich, sieh nur, nun kommt sie auf mich zu, die von eben, scharfe Blonde.

  Neben ihr verblasst der Dom, mein Innerstes hört auf, zu frieren. Eine wie sie könnte ich bis zum letzten Atemzug lieben. Noch ein paar solcher Herzschläge, und das wars. So eine Frau dürfte nur in Begleitung einer Ambulanz auf die Straße! Mein Gott, sieht die gut aus. Wieviele vor mir sind auf diesem Platz öffentlich zu Tode gekommen?

  Sie erhebt ihre Stimme ins Zwitschern, ich rekapituliere, dass sie nichts hat, mich zu wärmen; sie deutet mir die Unverzichtbarkeit ihrer Habseligkeiten an. Und riecht dabei viel besser als die verdammte Kälte. Ich will sie nach einer Umarmung fragen, weil mir wirklich zapfenkalt ist. Doch nun ist sie schon weg.

  Und von rechts nähert sich ein Polizist. Zusammen mit zwei Politessen. Ein Wichtigtuer hetzt fuchtelnd neben ihnen; er ist mein Judas. Das wurde aber auch Zeit! Ich steige vom Karton und eile davon...

  Boah, ist das kalt. Beim nächsten Mal lasse ich mir auch so etwas Gemeines einfallen wie Spencer und jetzt ab und zurück in die Kneipe. Vielleicht überhole ich die Blonde ja noch, wenn ich nur tüchtig renne. Das wäre nicht so schlimm für sie, ich bin kein schlechter Kerl. (Einige Meter entfernt befragt die aufgeregte Polizei harmlose Passanten nach mir.)

  Bitterlich kalt. Aus den Büschen zerre ich mein Zeug, die Klamotten, ziehe Hosen über, schnell, werfe fremden Ballast ab und stürme voran. Zack, und die Treppen hinunter…

  Da drüben läuft sie ja!
  Ich hoffe, sie glaubt mir und kann unerschrocken lachen.

11 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Servus,

ich finde den Text sehr interessant. Es stellt sich einer nackt auf den Domplatz und wartet was geschieht. Und tatsächlich erbarmen sich einige und bedecken ihn. Ich hatte beim Lesen den Wiener Stephansplatz im Kopf, bei Dunkelheit und nebelige Kälte. Der Mann macht nur einen Versuch, eine Art Körperkunst, da er ja seine Kleidung wieder hervorholt und in eine Kneipe geht. Er möchte ein Held sein.
Die Blondine am Schluß veranlaßt ihn dazu die Darbeitung abzubrechen. So habe ich persönlich den Text verstanden.

Ich mag den Stil, dieses eigenwillige, freche, das ich darin zu erkennen glaube. Die Anspielungen auf die Jesusgeschichte, auch in bezug zum Dom. Die Reaktionen der Vorbeigehenden, einer friert sogar lieber selbst, als den Nackten frieren zu sehen. (Das gibts aber auch nur in der Literatur, im Film, im Theater).

Die Blondine, die das „Kunstwerk" aufgrund ihres Aussehens beendet.

Ein sehr interessanter Text, den man eigentlich ein paar Mal lesen sollte, um sich hineinzuversetzen.

Salve,
Echnaton (der momentan lieber in Süditalien weilen würde, da das Wetter hier so grauslich ist)

Anonym hat gesagt…

Meine Deutung dieses durchaus interessanten Textes ist eine andere: M. E. steht der Nackerte infolge einer Kneipenwette auf dem Domplatz, bricht seine Aktion beim Eintreffen von Polizeibeamten ab und flüchtet zurück zum warmen, geselligen Ausgangspunkt, dabei hoffend, die scharfe Blonde unterwegs abschleppen zu können. :-)

Sehr unterhaltsam geschrieben, wobei der gesellschaftliche Aspekt vielleicht etwas zu kurz kommt. Weiß man's?


Ciao
Antonia

Anonym hat gesagt…

Tapseln finde ich als neue Wortschöpfung für die Japaner total klasse.

Schöne Geschichte, hat Spaß gemacht sie zu lesen.

Viele Grüße
Karin

Anonym hat gesagt…

Eine gute Idee und eine gute Geschichte.

"Eine Frau rast heran, mitten durchs Bild, ohne theatralisches Feingefühl." Ha! Hat mir wirklich gefallen, kann dir gar nicht viel mehr dazu sagen.

Moment, eine Anmerkung noch - ein bisschen gemein ist das schon von deinem Protagonisten. Der sympathische "Ausländerbär" und auch der Penner geben ihm ja Dinge, auf die sie eigentlich nicht gut verzichten können. Nur wegen der blöden Kneipenwette, von der sie nicht wissen können, verschenken sie ihre Decken und Jacken an einen Kerl, der kurz darauf wieder Blondinen anbaggert. ;-)
Trotzdem mag ich seine Beobachtungen und Beschreibungen der Passanten, den Teil mit den Japanern finde ich sehr gelungen. ;-) Obwohl mir hier aufgefallen ist, dass die Menschen erstaunlich fürsorglich reagieren anstatt möglicherweise entsetzt oder peinlich berührt, denn, hey, hier steht ein nackter Mann auf dem Domplatz (abgesehen natürlich von demjenigen, der nachher die Polizei anschleppt.)
Diese zwei Anmerkungen noch dazu, weil ich es auch nicht mag, allzu knappe Post zu bekommen. ;-)

Viele Grüße,
Coco

Anonym hat gesagt…

Hallo,

und wow! Die Idee hat mir absolut gefallen. Irgendwie kamen mir dabei die Berliner Studenten in den Sinn. Sie rannten zwar aus Protest nackig über Weihnachtsmärkte, aber vielleicht haben sie ja deinen Text gelesen? Mit Sicherheit aber haben sie so gefühlt. Prima Momentaufnahme!

Liebe Grüße.

Anonym hat gesagt…

schoene idee, witzige geschichte. zu meckern habe ich nichts. nur dieses gefuehl von deja-vu ... *g*

Anonym hat gesagt…

Kompliment, die Geschichte ist wirklich einwandfrei, und vor allem ist sie sehr schön geschrieben. Toll finde ich zum Beispiel die Beschreibung des Zustandes als Verschleißerscheinung oder auch das wilde Bildnis einer gepflegten Frau. Sehr schön! Ich finde die Geschichte wirklich toll und hab mich prächtig amüsiert.

Gratulierend,
Faber

Anonym hat gesagt…

Schön, ähm...

Also, da du bisher hier ja noch keine richtig ordentlichen Kritiken drauf bekommen hast, werde ich mich mal versuchen.
Ich hab zwar keine Ahnung, ob ich das alles richtig interpretiert habe, oder ob das nur Wunschdenken ist. Aber ich denke mal, da hat einer seine Wette verloren - bin ich nicht schlau?
Der Anfang war meiner Meinung nach philosopisch.(Wolltest du das?) Für mich war das so 'ne umgekehrte Version von "Sterntaler", d.h., nicht das Mädchen gibt die Kleidung, sondern der Kerl kriegt sie, und da das alles auch noch vorm Dom spielt, finde ich es irgendwie antichristlich. (Beruhige dich Satansbraut, du interpretierst doch in alle Geschichten was antichristliches rein! Jaaa, *snief*, ich weiß!)
Ist das gewollt gewesen? Wenn ja, gut. Wenn nicht, sorry, dass ich abschweife.
Auf alle Fälle mag ich den Stil dieser Kurzgeschichte. Schön kurz und präzise und vor allem einfallsreich! Das kann ich nicht...
z.B.: "wie eine abgelegte Marionettenkarikatur" - Einfach nur krass, auf sowas zu kommen und es trifft ja irgendwie den Nagel auf den Kopf!
Jedenfalls finde ich den Schluss total witzig, weil man denkt sonstwas, ja, der Mann, der frierend vor der Kirche steht, das da was Philosopisches dahinter steckt, nee am Ende wars bloß 'ne Wette.
Ich hoffe mal, ich hab das alles halbwegs richtig interpretiert.

Ciao

Anonym hat gesagt…

Das ist wohl die Kunst. Die Kunst des Schreibens. Ich lese sie in diesem Text.

-

Man stellt den Protagonisten auf einen Platz. Beschreibt die Umgebung, Situationen, Menschen und kurz die Reaktionen des Protagonisten selbst. In kurzen Sätzen mit treffsicheren Worten.
So wird Moralisierung vermieden, der Leser kann sich ganz allein in der Geschichte zurechtfinden und fühlt sich dennoch vom Autor an die Hand genommen und durch den Text geführt.
Vom Schreibstil, der Wortwahl und besonders schönen Sätzen möchte ich jetzt gar nicht erst noch anfangen.
"... mein Herz hört auf zu frieren.", ist nur ein Beispiel.

Ich jedenfalls nehme mir, wenn ich solche Texte lese, auch immer etwas Handwerkliches "mit".
Danke.
:-)


Fantastisch.
Ich bin begeistert.
H.

Anonym hat gesagt…

Na, was wurde da gespielt in der Kneipe? Einfach eine Wette, oder "Wahrheit oder Pflicht?"

Auf jedenfall war es Inspiration zu einer gelungenen Geschichte. Die außerdem zeigt, dass Leute die im Grunde wenig haben, doch immer noch bereit sind etwas von dem Wenigen abzugeben.

Liebe Grüße
Nicole/Julchen

Anonym hat gesagt…

Eine so eindrucksvolle Stimmungsbeschreibung einer so absurden Situation! :-)